Lasst endlich die Kunst in Ruhe! Selfies haben keine Vorläufer

„Stephen Shore ist sich sicher: Warhol hätte Instagram geliebt.“ So hat Anika Meier einen fast gleichnamigen Artikel der New York Times auf ihrem Twitter-Account verlinkt. Derartige konjunktivische Unterstellungen gibt es viele, doch Andy Warhol ist bei weitem der beliebteste tote Instagrammer. Das könnte entweder daran liegen, dass er einen eigenen Instagram-Account besitzt (@warholpopart), für dessen Inhalte sich das Warhol-Museum zuständig fühlt. Oder aber daran, dass Warhols Polaroids vielerorts noch immer als ästhetische Referenz für Filter und Bildausschnitte fungieren. Daher wird auch behauptet, Warhol sei eine Art Vorläufer für das soziale Bildnetzwerk gewesen, wo er höchstens eine Vorlage für bestimmte Filter war. Der Unterschied klingt zwar banal, ist es aber nicht. Während dem Begriff des Vorläufers ein genealogisches Weltbild zugrunde liegt und demnach jeder, der Instagram benutzt, von Warhol abstammen müsste, ist die Vorlage vielmehr ein Muster, das man benutzen und neu collagieren kann – aber nicht muss. Die Vorlage ist ein Entwurf, den man auch verwerfen kann und für dessen Anwendung man selbst verantwortlich ist. Der Vorläufer übernimmt hingegen die Verantwortung für jeden noch so zierlichen Ast seines Stammbaums. Das tut er jedoch nicht freiwillig, denn meistens wird dem Vorläufer erst dann seine Rolle zugestanden, wenn er schon Nachfolger hat, und insofern ist der Glaube an Genealogien immer auch als Abgabe der Eigenverantwortlichkeit zu verstehen.

Wenn diese Unterscheidung ignoriert wird, so führt sie meistens zu Verwirrungen. Schließlich kann man genauso wenig, wie man seine Gene für alles verantwortlich machen kann, auch oder schon gar nicht Andy Warhol oder die Pop Art für alles verantwortlich machen.
Besonders deutlich wird dies im Umgang mit Selfies. Selfies sind ein sehr spezifisches Bildmotiv. Sie unterscheiden sich jedoch nicht nur motivisch, sondern auch ästhetisch und funktional offensichtlich von anderen Selbstportraits. Deshalb konnte man sie auch nicht als solche bezeichnen, sondern hat einen neuen – zugegeben etwas peinlichen – Begriff dafür erfunden.

Das Selfie (rechts) wurde nicht in einer steinzeitlichen Höhle, sondern in einem Erlebnisbad aufgenommen.
Das Selfie (rechts) wurde nicht in einer steinzeitlichen Höhle, sondern in einem Erlebnisbad aufgenommen.

Im Umgang mit Selfies fällt jedoch auf, dass es immer wieder in genealogische Zusammenhänge gebracht wird – insbesondere in den der Kunst. „Ein Selfie kann Kunst sein, Widerstand und Statement. Damals wie heute. Denn das Selfie hat es eigentlich schon immer gegeben, ob als Höhlenmalerei, Gemälde oder Fotografie“, schreibt Hengameh Yaghoobifarah. Als Höhlenmalerei? Und was bedeutet es überhaupt, zu schreiben, das Selfie habe es schon immer gegeben?
Auch die Ausstellung „Ego Update“ im NRW-Forum in Düsseldorf scheint davon auszugehen, dass es sich bei dem Selfie vor allem um ein Update bisher bestehender Selbstdarstellungen handelt. Und nicht zuletzt „Ich bin hier. Vom Rembrandt zum Selfie“ der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe stellt das Selfie in die Genealogie des Selbstportraits. Über die Konzeption der Ausstellung schrieb die Süddeutsche Zeitung: „Vom 31. Oktober bis 31. Januar soll es darum gehen, wie sich das Individuum in der Kunstgeschichte inszeniert hat, wie es sich selbst in Bildern sieht. Als letzter Künstler der Ausstellung wird Ai Weiwei präsentiert, der das Selfie zur Kunstform erhoben hat. Anschließend wird übergeleitet zur Selbstdarstellung heutiger Jugendlicher im Selfie.“ Interessant ist nicht nur, dass hier Ai Weiwei als Scharnier benutzt wird, um das Ausstellen von Selfies heutiger Jugendlicher zu legitimieren. Sondern vor allem, dass das Selfie ganz selbstverständlich im Kontext einer Kunstausstellung präsentiert wird. Zwar ist nicht abzustreiten, dass gleiches in jeder kulturgeschichtlichen Ausstellung durchaus seine Relevanz besitzt, aber im Kontext der Kunstgeschichte? Für das Selfie bedeutet das einen Aufstieg in der Hierarchie der Kultur: aus der Sphäre des Wertlosen, Vergänglichen in die des Wertvollen, das es zu bewahren gilt. Die feste Verankerung dieser Hierarchie ist sicher der Reiz am Vergleichen von Selfie und Kunst, da nur an Brüchen geltende Machtverhältnisse zur Schau gestellt werden können. Im Umkehrschluss verliert jedoch die Kunst an Exklusivität – eine Vorrangstellung, die sie im Wesen immer schon ausgezeichnet hat, sei es eine handwerkliche oder gesellschaftliche.

Auch Vincent van Gogh hat sich für Sonnenblumen interessiert. Ist das Mädchen rechts deshalb auch eine Künstlerin?
Auch Vincent van Gogh hat sich für Sonnenblumen interessiert. Ist das Mädchen rechts deshalb auch eine Künstlerin?

Dass wir gegenwärtig noch immer von einem elitären Kunstbegriff geprägt sind, zeigen wiederum kulturwissenschaftliche Ausstellungen. Dazu darf durchaus auch „Ego Update“ zählen, schließlich steht in deren Mittelpunkt eine philosophische und nicht eine kunsthistorische Fragestellung und das NRW-Forum sieht sich in erster Linie selbst als „Kulturzentrum.“ Interessanter Weise findet man in derartigen Ausstellungen hauptsächlich Kunstwerke. Ai Weiwei, Erik Kessels und Kurt Caviezel sind allesamt Künstler und ihnen scheint man mehr zuzutrauen als den Selfies heutiger Jugendlicher. Oder aber sie werten das Museum auf, wohingegen eine Ausstellung mehr oder weniger willkürlich ausgesuchter Selfies nach einer billigen Produktion aussehen würde und wahrlich nicht einer Machtdemonstration des Museums dienlich wäre.
Es scheint oft vergessen zu werden, dass Museum nicht gleich Museum ist. An die unterschiedlichen Museen knüpfen sich jeweils andere Ansprüche und Funktionen. Wer das Selfie beispielsweise als ein Produkt angewandter Kunst versteht, möchte doch meinen, dass sich selbiges auch im Museum für angewandte Künste wiederfindet und nicht in einem Kunstmuseum.

Albrecht Dürer stellt sich als Künstler dar, das Mädchen links als Dinosaurier?
Albrecht Dürer stellt sich als Künstler dar, das Mädchen rechts als Dinosaurier?

Auch im Museum für angewandte Kunst in Frankfurt hat man in diesem Jahr Selfies ausgestellt. Im Katalogtext der Ausstellung „HAMSTER HIPSTER HANDY“ werden die neuen „Künste fernab von Institutionen und Kunstsystemen“ beschrieben, gemeint sind damit iPhone-Bilder und YouTube-Videos. Die Figur des Hipsters, so der einführende Text, habe eine spezifische Ästhetik herausgebildet. Doch anstatt die besprochenen Dinge selbst zu zeigen, werden in der Ausstellung Kunstwerke präsentiert. Als Repräsentant für die Selfie-Kultur wird wieder Ai Weiwei ausgestellt anstatt beispielsweise Kim Kardashian, die popkulturelle Ikone dieses Formats.

Während also im Kunstmuseum womöglich mehr von den Selfies erwartet wird, als eingelöst werden kann, nämlich dass sie Kunst sind, kann die bildende Kunst nicht dem gerecht werden, was kulturhistorische Ausstellungen von ihr verlangen: dass sie Funktionen und Umgangsweisen von gegenwärtigen kulturellen Praktiken darstellt.

Im genealogischen Sinne gibt es für das Selfie keine Vorläufer. Es nimmt sowohl in der Kunst- als auch in der Fotografiegeschichte eine Sonderstellung ein. Zwar gab es auch da immer schon Selbstportraits, sogar solche, die dem heutigen Selfie formal sehr ähnlich sind, jedoch bleibt die einzige Gemeinsamkeit das Motiv. Sowohl die Motivation als auch die mediale Gestalt als auch der Kontext, in dem das Bild rezipiert wird unterscheiden sich grundsätzlich von früheren Formen. War es die offenkundige Motivation des Künstlers,  mit der Abarbeitung an den klassischen Genres ein Kunstwerk zu erschaffen und damit etwas für die Ewigkeit zu erzeugen, bleibt das Selfie ganz und gar in der Gegenwart. Es besitzt weder Anspruch auf Werkhaftigkeit noch auf Dauerhaftigkeit. War es die Motivation der privaten Fotografie, persönliche Erinnerungen festzuhalten, möchte das Selfie (meistens) weder ausgedruckt noch in einem Fotoalbum kommenden Generationen begegnen.

Christian Borchert wollte nur schnell nachsehen, ob sein Hemd richtig sitzt.
Christian Borchert wollte nur schnell nachsehen, ob sein Hemd richtig sitzt.

Die Netzkultur hat das Selfie hervorgebracht und sie steht außerhalb von Hochkultur oder Trivialkultur. Doch welchen Status besitzt das Selfie dann? „Wir verschicken Selfies wie Briefe an die Welt, als kleine visuelle Tagebücher, die ein Ereignis aufblasen, straffen, dramatisieren – sie sagen: ‚Hier bin ich; schau mich an.’“ So beschreibt es Jerry Saltz. Das Selfie verändert die Fotografie, mutmaßt der Künstler und Kritiker David Colman bereits 2010 in der „New York Times“. „This really represents the shift of the photograph serving as a memorial function to a communication device,“ zitiert Colman Geoffrey Batchen. Doch eine Wendung fand eigentlich nicht statt, wenngleich die These, das Selfie sei ein Kommunikationsmedium, zutreffend ist. Beim Selfie gibt es keinen „erlösenden Klick“ – wie Roland Barthes das Auslösen eines Fotoapparates beschrieb. Das Selfie ist unabgeschlossen.
Wolfgang Ullrich stellt in seinem Essay „Selfies als Weltsprache“ fest, dass zu jeder Zeit der Fotografiegeschichte ein solcher Bildtypus möglich gewesen wäre, er aber erst mit der Erfindung des Smartphones entstanden ist. Das ist ein wichtiger Hinweis, denn das Smartphone ist wiederum allen voran als Telefon gedacht, Kurznachrichten und Bildnachrichten sind nur eine Spezifikation dieser Funktion. Wenn das Selfie also in einer Tradition stehen sollte, dann in der des Kommunizierens. Selfies sind Teil einer Erzählkultur, einer neuen Mündlichkeit, die durch Echtzeitkommunikation entsteht.

Gut aussehen ist auch Arbeit. Jeff Wall referiert Manet, der Mann rechts im Bild einen Bodybuilder?
Gut aussehen ist auch Arbeit. Jeff Wall referiert Manet, der Mann rechts im Bild?

Doch auch ausgehend vom Motiv ist es schwer, eine Vorlage jenseits der Netzkultur zu finden, denn dazu bedarf es einer Kenntnis dergleichen, zum Beispiel von der Geschichte des Selbstportraits ind Kunst oder Fotografie. Ebensowenig liegt für das Selfie eine Pathosformel vor. Es ist anzunehmen, dass die meisten Protagonisten der sozialen Netzwerke eine solche Kenntnis nicht besitzen, es sei denn, sie wird ihnen in einer App zur Verfügung gestellt und anwendbar gemacht. Viele orientieren sich deshalb, wie Ullrich folgerichtig festgestellt hat, an dem, was sie kennen: den Emoticons.

Nun könnte man es für spießig halten, klare Grenzziehungen einhalten zu wollen. Für intolerant, Selfies partout nicht als künstlerische Bilder verstehen zu wollen. Doch ist die Existenz der Kunst abhängig von ihrer Sonderstellung. Nicht mal die Avantgardisten würden sich darüber freuen,  dass nun jedes Bild eines Jugendlichen als ein künstlerisches verhandelt wird, wenngleich sich in der Etikettierung eines Pissoirs als Kunst dieser Wunsch auszudrücken scheint. Wenn Kunst überall ist, gibt es sie nicht mehr. Wenn eine Sammlung vollständig ist, wird das Sammeln überflüssig.
Kunst lebt in diesem Sinne von einer Außenseiterrolle. Wenn man aber das Selfie zur Kunst erklärt, indem man es in einer Kunstausstellung zeigt, bedeutet dies, dass Albrecht Dürer im 15. Jahrhundert das gleiche machte wie ich heute: Bilder von sich selbst. Selbstverständlich darf man dann im Umkehrschluss die Frage stellen: Bin ich ein Künstler? Hatte Beuys recht?

Was die Außenseiterrolle betrifft, so gelangt man erneut zu Andy Warhol. In vielerlei Hinsicht hat er Kunst gemacht, die in der heutigen Netzkultur als Alltagspraxis beschrieben werden könnte: er hat Polaroids von sich und seinen Freunden gemacht, Bilder, die nicht so perfekt sind wie jene der Werbewelt. Er hat in seiner Arbeit auch bestimmte Szenen adressiert und in Schaufenstern ausgestellt, weil er von allen gesehen werden wollte. Aber Warhol hat sich gleichzeitig als Außenseiter zelebriert. Er ist an die damaligen Grenzen gegangen. Sein Alltag, der sich in den Polaroids auszudrücken scheint, war für viele unerträglich abnormal.

Vielleicht hätte Warhol also Instagram geliebt, weil er so leidenschaftlich berühmt war. Wahrscheinlich hätte er jedoch Instagram gehasst, weil er sich zum Anderssein bekannt hat und sich kaum etwas so sehr der Norm entsprechend verhält wie die Kommunikation auf Instagram oder ein Selfie im Museum.

Die Kamera als Werkzeug und Trainingsinstrument.
Die Kamera als Werkzeug und Trainingsinstrument.

5 Antworten zu „Lasst endlich die Kunst in Ruhe! Selfies haben keine Vorläufer”.

  1. […] Update 21. Oktober 2015: Es gibt bereits einige Beiträge innerhalb der Blogparade, darunter u.a. von Christian Gries, Anika Meier und Annekathrin Kohout. […]

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  2. Liebe Annekathrin Kohout,

    vielen Dank für die spannende Beleuchtung des Themas der Vorläufer und Vorlagen. Selfies von Jugendlichen werden bei uns übrigens nur im Rahmen eines pädagogischen Zusammenhangs in der Begleitausstellung in der Jungen Kunsthalle gezeigt. Mag Ai Weiwei auch als Scharnier dienen, heißt das für uns nicht, dass die Selfies von Jugendlichen dadurch als Kunst „legitimiert“ werden. Ab 31.10. kann sich jeder selbst ein Bild von beiden Ausstellungen machen – Sie sind herzlich eingeladen. Unsere Museumspädagogin bloggt Ende nächster Woche auch noch zu der Begleitausstellung „Selfies“ in einem extra Blogbeitrag der #selfierade.
    Beste Grüße, Ihr Kunsthallen-Team

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  3. Liebe Ann-Kathrin !

    Du sprichst hier genau die Punkte an, die wir im Rahmen der #Selfierade zur Diskussion stellen woll(t)en. Es fällt mir ebenfalls schwer eine Einordnung der Selfies in die Reihe der Selbstporträts oder Selbstdarstellungen der Künstler zu fassen. Das bedarf noch einer expliziten Begründung und Überlegung.

    Liebe Grüße
    Alexandra

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  4. […] nämlich die Emojis, wie Ullrich und auch Ann-Kathrin Kohout in ihrem lesenswerten Beitrag „Lasst endlich die Kunst in Ruhe! Selfies haben keine Vorläufer“ feststellen. Wie Wut, Freude, Trauer und Co ausgedrückt werden, ist dem Nutzer auch über […]

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  5. […] „Nun könnte man es für spießig halten, klare Grenzziehungen einhalten zu wollen. Für intolerant, Selfies partout nicht als künstlerische Bilder verstehen zu wollen. Doch ist die Existenz der Kunst abhängig von ihrer Sonderstellung. Nicht mal die Avantgardisten würden sich darüber freuen,  dass nun jedes Bild eines Jugendlichen als ein künstlerisches verhandelt wird, wenngleich sich in der Etikettierung eines Pissoirs als Kunst dieser Wunsch auszudrücken scheint. Wenn Kunst überall ist, gibt es sie nicht mehr. Wenn eine Sammlung vollständig ist, wird das Sammeln überflüssig. Kunst lebt in diesem Sinne von einer Außenseiterrolle. Wenn man aber das Selfie zur Kunst erklärt, indem man es in einer Kunstausstellung zeigt, bedeutet dies, dass Albrecht Dürer im 15. Jahrhundert das gleiche machte wie ich heute: Bilder von sich selbst. Selbstverständlich darf man dann im Umkehrschluss die Frage stellen: Bin ich ein Künstler? Hatte Beuys recht?“ Annekathrin Kohout, Lasst endlich die Kunst in Ruhe!, 2015. Hier geht es zum vollständigen Text. […]

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